
Wenn Zehntausende gemeinsam schweigen, kann das ein Moment majestätischer Erhabenheit sein. Eine solche Stille, ein kurzes Innehalten steht vor dem Countdown, der das große Stadionsingen einläutet. Dann stimmt die Masse gemeinsam das „Gloria in excelsis Deo“ an – der erste von vielen Gänsehautmomenten an diesem Abend.
Seit ihrer Premiere mit 7000 Besuchern im Dezember 2022 ist die Aktion von Jahr zu Jahr größer geworden: Vor einem Jahr kamen mehr als 20.000 Menschen in die Heinz von Heiden Arena, um gemeinsam Weihnachtslieder zu singen. Diesmal waren alle 31.500 Plätze bereits lange voraus ausverkauft. „In diesen Zeiten haben viele Sorgen“, sagt Stadtsuperintendent Rainer Müller-Brandes vom evangelischen Kirchenkreis Hannover, der das Stadionsingen federführend organisiert. Es gebe eine fatale Abwärtsspirale aus Not und Hoffnungslosigkeit. „Wir können aber Zuversicht in die Welt bringen, indem wir gemeinsam singen“, sagt er beschwörend.
Der Wille dazu ist im Stadion förmlich mit Händen zu greifen. Vor „Ihr Kinderlein kommet“ verwandeln leuchtende Handys die Westkurve in ein Lichtermeer. Die Dunkelheit wird hell. Und hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor. Könnte man zumindest meinen. „Leise rieselt der Schnee“, „Jingle Bells“, „Stille Nacht“ – auf dem Programm stehen 18 geistliche und weltliche Weihnachtslieder. „Es macht einfach Freude, gemeinsam zu singen“, schwärmt Jana Solf aus Bemerode auf der Westtribüne.
Im Stadion stehen Rentner neben Studentinnen, Menschen aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten verschmelzen hier zu einem gewaltigen Klangkörper. Nichts ist so integrativ wie eine gemeinsame Melodie. Tausende summen mit, als der Chor der Wohnungslosen seine eigene Version von Leonard Cohens „Hallelujah“ intoniert: „Ohne Arbeit, ohne Geld, so vergisst dich schnell die Welt“, heißt es darin. Der Erlös des Stadionsingens ist für die Ökumenische Essensausgabe sowie für die HAZ-Weihnachtshilfe bestimmt.

Bei „Kling, Glöckchen“ klimpern die Besucher mit ihren Schlüsselbunden. Und als die Jungen und Mädchen vom Kinderchor der Staatsoper bei „Feliz Navidad“ von der Bühne winken, ist die Stimmung festlich und ausgelassen zugleich. Nach dem Ohrwurm „Last Christmas“ lesen NDR-Moderatorin Christina von Saß, Hannover-96-Geschäftsführer Marcus Mann und die zehnjährige Ada die biblische Geschichte von der Geburt Christi vor. Weltliteratur und Wohlfühlpop liegen Weihnachten manchmal eng beieinander.
Die Forschung lehrt, dass der Körper beim gemeinsamen Singen Glücksstoffe ausschüttet. Wenn Menschen zusammen Lieder anstimmen, stärkt dies das Sozialverhalten, es baut Ängste ab und aktiviert das Gemeinschaftsgefühl. Abertausende erleben dies im Stadion am eigenen Leib. „Was für eine großartige Stimmung“, sagt der katholische Propst Wolfgang Semmet, ehe Gospelkantor Jan Meyer „Hannovers Weihnachts-Hymne“ präsentiert, die er eigens für das Stadionsingen komponiert hat. Eine Welturaufführung.
Mehr als 300 Mitwirkende machen in der Ostkurve des Stadions professionell Musik; Gospelensemble, Band und Bläsergruppen sind dabei. Doch die eigentlichen Stars an diesem Abend sind die gewöhnlichen Besucher, die sich selbst mit Gesang beschenken. „Ihr seid der größte Chor, den es jemals in Hannover gegeben hat“, ruft Moderator Christoph Dannowski dem Publikum zu, „darauf können wir alle gemeinsam stolz sein.“
Nach „O du fröhliche“ gehen die Massen beseelt heim. Spätestens mit dieser Saison hat das Stadionsingen neben Schützen- und Maschseefest seinen festen Platz in Hannovers Eventkalender gefunden. Der Termin für 2026 stehe schon fest, sagt Rainer Müller-Brandes: Es ist der 15. Dezember. „Dann wollen wir die Hütte voll machen.“
Von Simon Benne



