Der lange Kampf zurück ins Leben

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Juliane Braun hat ihr Leben in zwei Abschnitte geteilt: In eine glückliche Zeit vor dem 2. März 2009 mit gutem Job, berufsbegleitendem Studium und fester Beziehung. Und in die Zeit nach jenem Tag, der ihr Leben aus den Angeln hob. An diesem 2. März sollte bei der von Geburt an schwerhörigen Frau lediglich eines ihrer Cochlea-Implantate ausgewechselt werden – ein Routineeingriff. Doch es gab lebensbedrohliche Komplikationen. Juliane Braun erlitt während der Operation einen schweren Hirnstamminfarkt, einen Herzinfarkt, eine Hirnblutung und eine mehrfache Lungenembolie. „Als ich wieder wach wurde, dachte ich, ich wäre während in der OP aufgewacht“, erzählt die 39-Jährige. Ein Albtraum. Mit harter Arbeit und Disziplin hat sie sich ins Leben zurückgekämpft. Jetzt träumt sie davon, mobiler und selbstständiger zu werden – mithilfe eines Handbikes. Damit könnte sie ihren Rollstuhl allein durch die Muskelkraft ihrer Arme antreiben.

Nach der verhängnisvollen Operation war die damalige Mitarbeiterin eines Steuer- und Wirtschaftsprüfers bewegungsunfähig, sie konnte selbstständig weder atmen, schlucken noch sprechen. Ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften mit dem Ziel, Steuerberaterin zu werden, rückte in weite Ferne. Erst in der Reha nach viermonatigem Klinikaufenthalt erfuhr sie, was wirklich passiert war. Juliane Braun begann, gegen all die Widrigkeiten anzukämpfen, musste auch Lesen und Schreiben ganz neu lernen. „Ich wollte mich nicht unterkriegen lassen, wieder arbeiten und selbstständig leben“, erzählt sie.

Nur ein halbes Jahr später, im September 2009, erlitt sie einen weiteren Schlaganfall. Dieses Mal war ihre rechte Körperseite betroffen. Doch dieser Rückschlag ging über ihre psychischen Kräfte; Juliane Braun fiel in ein tiefes Loch, sie wurde depressiv. „Im November 2009 wollte ich Schluss machen“, erzählt sie so sachlich und distanziert, als sei sie nicht dabei gewesen. „In meinem Leben  war ja alles kaputtgegangen.“ Noch rechtzeitig wandte sie sich an ihren Hausarzt, der ihr Medikamente verordnete. Zwei Tage später erfuhr sie vom Suizid des Hannover-96-Torwarts Robert Enke. „Ich denke noch heute viel an ihn und wie er sich gefühlt haben mag“, sagt die junge Frau, die seit 15 Jahren Fan von Hannover 96 ist. Durch eine Psychotherapie lernte Juliane Braun, sich von ihrem alten Leben „zu verabschieden“. „Das war ein mühsamer Prozess“, sagt sie, „aber er hat mit Mut und Hoffnung gemacht“.

Seit der OP 2009 sitzt Juliane Braun im Rollstuhl, ihre linke Seite ist vollständig taub, die rechte spastisch gelähmt. Hinzu kommen unter anderem ständige Schmerzen, die sie nur mit schweren Medikamenten dämpfen kann, Schluck- Sprech- und Sehstörungen. Im Juli und im Dezember 2013 erlitt sie zwei weitere Schlaganfälle. Ans Aufgeben denkt sie aber nicht mehr, im Gegenteil. „Um mich zurückzulehnen, bin ich noch viel zu jung“, sagt sie kämpferisch.

Ganz praktische Hilfe erhält Juliane Braun von einem Pflegedienst. Drei Assistenz- und Pflegekräfte unterstützen sie – abwechselnd – zehn Stunden täglich und ermöglichen ihr dadurch ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung. „Ein cooles Team“, findet die 39-Jährige, die berufsunfähig ist und von Grundsicherung lebt. „Ich hätte mir nie träumen lassen, einmal auf Sozialleistungen angewiesen zu sein“.  Zu ihrem Tagesablauf gehört ein tägliches Therapieprogramm. Physiotherapie fördert ihre Beweglichkeit und senkt die Muskelanspannung. Die Bewegung lindert auch ihre chronischen Schmerzen. Seit drei Jahren nutzt sie außerdem mehrmals täglich einen elektrisch unterstützten Bewegungstrainer. Mithilfe des Ergometers wird ihre Beinmuskulatur beweglicher, er stabilisiert auch den Kreislauf. Die Wirkung hält allerdings nicht lange an. Hinzu kommen Lymphdrainage, denn durch Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe steigt der Druck auf ihre Muskulatur und damit die Schmerzen. Während der wöchentlichen Ergotherapie hat sie neue Aktivitäten wie das Kochen und Backen in der Gruppe entdeckt. Aktivitäten, die  nicht nur Spaß machen, sondern auch Juliane Brauns psychische Stabilität und ihr Selbstwertgefühl steigern.

Inzwischen hat sie auch wieder Spaß an ihren alten Hobbys – Malen, Fremdsprachen und Archäologie. „Ich kann zwar nicht mehr zu Ausgrabungen fahren, die verfolge ich jetzt per Internet“, berichtet sie. Wenn Hannover 96 spielt, sitzt sie mit Fanschal und -Basecap vor dem Fernsehgerät. „Meine Dauerkarte musste ich leider zurückgeben, aber ich wünsche mir so sehr, mal wieder ins Stadion zu kommen oder an einer Führung teilzunehmen.“

Ihr Rollstuhl, den sie vor allem zu Hause nutzt, ist wendig und leicht, daran dürfte ein solcher Besuch nicht scheitern. Inzwischen ist Juliane Braun sogar Mitglied in der Rollstuhlsportgemeinschaft RSG. Sie möchte sich sportlich mehr betätigen, um beweglicher zu werden und weniger auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass dadurch die Schmerzen etwas zurückgehen, um die Schmerzmittel reduzieren zu können. Wie das gehen könnte, hat sie bei der Probefahrt mit einem Handbike kennengelernt. „Dabei hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl von Mobilität, Freiheit und Glück erlebt“, erzählt sie. Mit einem Handbike, das auch Rollstuhl-Zuggerät genannt wird, könnte sie sich in ihrem Rollstuhl selbstständig fortbewegen. „Ich habe zwar auch einen Elektrorollstuhl, mit dem ich rundum zufrieden bin, aber ich brauche zusätzlich mehr Bewegung“, argumentiert sie.

Ihre Krankenkasse hat die Kostenübernahme abgelehnt, ein Widerspruchsverfahren blieb ohne Erfolg. „Mit einem Handbike könnte ich meine Mobilität und damit meine Lebensqualität verbessern.“ Ein Ziel hätte sie schon: Die Zehn-Kilometer-Distanz im Handbikefahren beim Hannover-Marathon: „Davon bin ich aber noch Jahre entfernt.“

Text: Jan Sedelies und Veronika Thomas | Foto: Michael Thomas

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Author: Michael Soboll

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