„Das ganze Leben ist Geheimniskrämerei“

Am schlimmsten ist die Angst, irgendwann nicht mehr für ihr Kind sorgen zu können: Katja L. mit ihrer fünfjährigen Tochter Nele. Foto: Surrey

Am schlimmsten ist die Angst, irgendwann nicht mehr für ihr Kind sorgen zu können: Katja L. mit ihrer fünfjährigen Tochter Nele. Foto: Surrey

Katja. L ist HIV-positiv. Weil sie auf die Medikamente mit schweren Nebenwirkungen reagiert, kann sie derzeit nicht arbeiten. Ein Fall für die HAZ-Weihnachtshilfe.

Er war ihre große Liebe, aber eine, die ihrem unbeschwerten Leben ein Ende setzte. Anfang 2008 lernte Katja L.* ihren Lebenspartner kennen. Nach drei Monaten zog das Paar zusammen, 2009 kam Tochter Nele* zur Welt. Die Schwangerschaft war nicht geplant, denn schon vor Jahren hatten Ärzte Katja L. erklärt, dass sie keine Kinder bekommen könnte. Was die heute 29-Jährige aber sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes erfuhr, hätte sie niemals für möglich gehalten: Sie und ihre Tochter hatten sich mit dem Immunschwächevirus HIV infiziert. Der fünfjährigen Nele geht es heute gut, ihre Mutter aber leidet unter schweren Nebenwirkungen der HIV-Therapie. Inzwischen wiegt sie nur noch 45 Kilogramm.

Der im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge absolvierte HIV-Test war noch negativ gewesen. Als sie ein halbes Jahr nach Neles Geburt Symptome entwickelte, die auf eine sexuell übertragbare Erkrankung hindeuteten, veranlasste ihr Gynäkologe ein Screening aller möglichen übertragbaren Erkrankungen – mit niederschmetterndem Ergebnis. Ihren Partner verließ Katja L. bereits sechs Wochen nach der Geburt, weil er sie während der Schwangerschaft betrogen hatte. Sie selbst hatte keine weiteren Sexualpartner, weshalb die Infektion nur durch ihn verursacht worden sein konnte. Katja L. konfrontierte den Vater ihres Kindes mit der Diagnose. Er reagierte schockiert, bestätigte aber in dem Gespräch, dass er ebenfalls HIV-positiv sei. Seitdem hat Katja L. nie wieder etwas von ihm gehört. Aber sie hat ihn angezeigt: wegen versuchter Tötung.

Bei der Aids-Hilfe erfuhr sie, dass ihre Lebenserwartung durch moderne Medikamente heutzutage fast genauso hoch ist wie bei Nicht-Infizierten. Das klang zunächst beruhigend. Doch schnell merkte sie, wie problematisch es ist, mit der Immunschwächekrankheit zu leben. Es war die unbedachte Äußerung ihrer Kinderärztin, die sie schließlich dazu zwang, eine neue Wohnung zu suchen. An jenem Tag stand Katja L. am Empfangstresen der Praxis, in der sie mehrere befreundete Mütter von Neles Spielgefährten getroffen hatte. Wahrscheinlich ohne darüber nachgedacht zu haben, rief die Ärztin einer Praxismitarbeiterin – und damit für alle Umstehenden hörbar – zu, dass Nele HIV-positiv sei.

Was danach kam, war ein Spießrutenlauf. Kein Kind in der Nachbarschaft durfte mehr mit Nele spielen. „Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet“, erzählt Katja L. Sie sah keinen anderen Ausweg aus der Situation, als umzuziehen. Kurz nach dem Einzug in die neue Wohnung kam es zu einem erneuten Zwischenfall. Weil ein Apothekenbote Frau L. nicht zu Hause antraf, nahm eine Nachbarin die Tüte mit den Medikamenten entgegen. „Sie war zugetackert“, erzählt die junge Frau. Das hinderte die Nachbarin aber nicht, diese zu öffnen. Sie googelte die Medikamente und erfuhr dadurch von Neles Infektion.

Katja L. legte ihr daraufhin ein Attest von Neles Kinderarzt vor, dass ihre Infektion keinesfalls ansteckend sei. Ohne Erfolg. Seitdem wird Nele von einigen Familien ihrer Nachbarschaft gemieden; erneut dürfen deren Kinder nicht mit ihr spielen. „Aber sie nimmt doch regelmäßig ihre Medikamente“, sagt ihre Mutter verzweifelt. „Die Virenlast im Blut befindet sich unter der Nachweisgrenze. Durch die Medikamente wird die Infektionsgefahr für andere ausgeschlossen.“

Einen weiteren Umzug kann sich Katja L. keinesfalls leisten. 14 Tage vor dem Wechsel in die neue Wohnung hatte sie beim Jobcenter die Zusicherung zur Umzugs- und Mietkostenübernahme erhalten. Dennoch wurde die erste Mietzahlung an den vorigen Vermieter gezahlt. Laut Jobcenter deshalb, weil der neue Mietvertrag zu spät eingegangen sei. Daher sei sie als Kundin für die Fehlüberweisung selbst verantwortlich, es sei ihre Sache, sich die Miete vom alten Vermieter zurückzuholen – 550 Euro. Weil Katja L. keine Rechtschutzversicherung hatte, konnte sie ihren Anspruch auf Rückzahlung der zu Unrecht erhaltenen Miete gegenüber ihrem alten Vermieter nicht durchsetzen. Aus Angst vor einer Kündigung zahlte Katja L. die Miete in Raten von ihrem Regelsatz. Geld, das sie dringend zum Leben benötigt hätte.

Katja L. war fünf Jahre lang halbtags als Sachbearbeiterin tätig. Ergänzend dazu erhielt sie Hartz-IV-Leistungen, damit es zum Leben reichte. Doch wegen schwerster Nebenwirkungen musste sie ihre Arbeit jetzt im Sommer aufgeben. Ein Jahr lang vertrug sie die HIV-Medikamente, dann setzten die Nebenwirkungen ein – starke Kopfschmerzen, Fieber, Gleichgewichtsstörungen, ständige Übelkeit und Erbrechen. Ihr Arzt verschrieb ihr immer wieder andere Medikamente, doch die Nebenwirkungen blieben. In den vergangenen drei Jahren hat sie zehn Kilogramm abgenommen. Je mehr sie isst, desto häufiger muss sie sich übergeben – fünf- bis sechsmal am Tag. Denn die HIV-Medikamente, das haben ihr die Mitarbeiter der Aids-Hilfe erklärt, seien für etwa 80 Kilogramm schwere Männer entwickelt worden, die diese auch gut vertragen. Die Unverträglichkeiten hingegen träten vor allem bei zierlichen Frauen auf.

Sie würde gern auf Medikamente für Kinder umsteigen, was auch ihr Arzt befürworte. Diese aber sind nur für Kinder zugelassen, weshalb ihre Krankenkasse die Kosten dafür nicht übernimmt. Ein Teufelskreis. Dabei möchte Katja L. möglichst schnell wieder arbeiten. Sie braucht dringend Möbel. Ihre alten, die sie vor fünf Jahren über Verpflichtungsscheine des Jobcenters gebraucht angeschafft hat, sind verschlissen. Weil das Kinderbett inzwischen zu klein ist, schlafen Mutter und Tochter gemeinsam in einem Bett. Sie haben keinen Kleiderschrank, Katja L. benötigt ein Schlafsofa, ihre Tochter ein Bett.

Am schlimmsten aber ist die Angst. Angst, irgendwann nicht mehr für ihr Kind sorgen zu können, und die Angst vor einem erneuten Outing durch Indiskretion. Nele weiß noch nicht, dass sie HIV-positiv ist. Ihr Kinderarzt hat Katja L. geraten, es ihr erst zu sagen, wenn sie alt genug ist – mit zehn oder elf Jahren. Auch im Kindergarten weiß niemand davon. Man würde sie ausgrenzen, meint der Kinderarzt. Welche Folgen das haben kann, hat Katja L. schon zweimal erfahren. „Das ganze Leben ist eine einzige Geheimniskrämerei“, sagt sie. „Weil es immer noch so viele Vorurteile und zu wenig Wissen über HIV gibt.“

 

* Namen geändert

Text: Veronika Thomas

Author: Michael Soboll

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